Offener Brief an den Vorsitzenden des Parlaments und an die Mitglieder des Parlamentsausschusses für Menschenrechte, Minderheits- und Religionsfragen

 

 

Die Koexistenz von unterschiedlichen Überzeugungen, Glaubensweisen und Entscheidungen bildet den Grundpfeiler für die Humanisierung der Welt. Der Wertpluralismus, der auch als fruchtbare Toleranz und Offenheit bezeichnet werden kann, ist nicht nur der erhaltende und vorwärtsweisende gemeinsame Schatz der euro-amerikanischen Gesellschaften, die auf der jüdisch-christlichen Tradition basieren, sondern auch jener Gemeinschaften, die nach anderweitigen kulturellen Paradigmen leben. Über die Ergebnisse der ungarischen Demokratie nach der Wende können wir auf vielfältige Art denken. Sicher ist jedoch, dass diese Entscheidung zu dem Zeitpunkt, als die Gesamtheit der Gesellschaft Nein zu dem gewaltsamen und ausschließenden Charakter der bisherigen Diktatur sagte, von dem einheitsschaffenden, gemeinsamen Pathos der Verpflichtung gegenüber der Pluralität der Werte und dem Glauben an die Freiheit und an die Ablehnung von Diskrimination getragen wurde.

 

Die ungarische Gesellschaft darf nicht zulassen, dass dieser gemeinsame Schatz als Schaden und Abfall angesehen wird. Wir dürfen nicht soweit kommen, dass im ungarischen Parlament, das die edelsten Ideen der Gesellschaft zu bewahren und zu pflegen verpflichtet ist, derjenige Akzeptanz erhält, der das Gegenteil dieser Ideen, das heißt die auf den Müllhaufen der Geschichte gelangten menschenfeindlichen gesellschaftlichen Ideen vertritt. Völlig unannehmbar ist, dass dies alles von jemandem getan wird, der Mitglied und sogar Vizevorsitzender des parlamentarischen Ausschusses fürMenschenrechte, Minderheits- und Religionsfragenist, dessen Aufgabe darin besteht,  den Kompass der sensibelsten Fragen der gesellschaftlichen Humanitas auszurichten.

 

Zsolt Semjén, der zugleich auch der Vorsitzende der Christlichdemokratischen Volkspartei ist, hat auf der jüngsten Delegiertensitzung seiner Partei Aussagen gemacht, die für einen Humanisten unvertretbar sind. Er stempelte Alternativen in Lebensweise, Auffassung, Gefühl und Denken als kulturelle, menschliche Schlacke ab: Er identifizierte die gleichgeschlechtliche Gefühlskultur mit schiefen und niederen Trieben; er brachte mit einer verschlüsselten Botschaft, die an die finstersten Kapitel der Geschichte erinnert, auf unmissverständliche Weise Homofile und Bärtige in einen Zusammenhang; er machte Aussagen, die die elementaren Werte des religiösen Andersseins mit Spott belegen und die elementaren Werte der Gewissens- und Religionsfreiheit in Frage stellen; er sprach mit verächtlichen Worten über diejenigen, die die Mittel der Euthanasie oder der Abtreibung wählen, um die Qualen ihres krisengeschüttelten Lebens zu lindern. Zur Rahmenaussage seiner beispiellos plumpen Bemerkungen liefert er den Gedanken, dass der institutionelle Vertreter all dieserDevianzeneine der Parteien der ungarischen Demokratie und der bestimmende Faktor der Wende ist: der Bund der Freien Demokraten bzw. dessen Wählerbasis. (Zitieren wir index.hu: „ «Wer möchte, dass sein Sohn im Teenageralter seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem bärtigen Onkel macht, der soll ruhig für den Bund der Freien Demokraten stimmen». Dies soll auch der tun, der sehen möchte, dass sich sein Kind  «auf den Séancen extremer Sekten auf den Boden wirft», oder der die Todeskultur der Euthanasie und der Abtreibung vertritt”.)

 

Mit seinen Worten hat Zsolt Semjén dem ungarischen Parlament und der neuen ungarischen Demokratie Schande gemacht. Er hat Ungarn, das Mitgliedstaat der Europäischen Union geworden ist, in Schande gebracht.

 

Im Bewusstsein seiner Sendung darf das ungarische Parlament keinen Moment lang dulden, dass Zsolt Semjén weiterhin seinen Posten als Vizevorsitzender des Ausschusses fürMenschenrechte, Minderheits- und Religionsfragenbekleidet.

 

Budapest, den 26. Februar 2005

 

 

Die Initiatoren:

 

Csaba Fazekas, Historiker

György Gábor, Religionsphilosoph

Ágnes Heller, Philosophin

Gábor Iványi, methodistischer Pfarrer

Mária Ludassy, Philosophiegeschichtlerin

Péter Lukács, Pädagogikforscher

Tamás Majsai, Theologe

Péter Tibor Nagy, Soziologe

 

Die Deklaration erschien mit der Unterstützung und dem Einverständnis von 266 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und wurde in breiten Kreisen der Öffentlichkeit diskutiert. Am 5. März ließen die Herausgeber den offenen Brief auch der Vorsitzenden des Parlamentes direkt zukommen. Bis zum 24. März erklärten weitere 863 Personen auf dem Weg über das Internet ihr Einverständnis mit dem Inhalt des Aufrufes.

 

 

Budapest, den 5. März 2005.

 

An Frau

Dr. Szili Katalin

 

 

Sehr geehrte Frau Vorsitzende!

 

Die unterzeichnenden acht beziehungsweise einhundertneunundachzig weiteren ungarischen Wahlbürger wenden sich mit der Bitte an Sie, in der Angelegenheit der Aufhebung des leitenden Amtes von Zsolt Semjén im Ausschuss für Menschenrechte Schritte einzuleiten.

 

Mit unserer Erklärung, die in Form eines Briefes veröffentlicht wurde, haben sich zusammen mit den bis Freitag eingetroffenen Zustimmungen bereits 564 Unterzeichner identifiziert.

 

Seitdem kommen unter der Adresse semjenzsoltugy@freemail.hu fortlaufend Briefe an, in denen die Absicht erklärt wird, sich anzuschließen. Die Namen unserer Mitbürger, die ihr Einverständnis erklären, veröffentlichen wir seit Sonntag fortlaufend im Internet-Portal  www.semjentiltakozas.ingyenweb.hu.

 

Hochachtungsvoll:

 

Csaba Fazekas, Historiker

György Gábor, Religionsphilosoph

Ágnes Heller, Philosophin

Gábor Iványi, methodistischer Pfarrer

Mária Ludassy, Philosophiehistorikerin

Péter Lukács, Forscher für Pädagogik

Tamás Majsai, Theologe

Péter Tibor Nagy, Soziologe

 

 

Anlagen:

 

a) Offener Brief an den Vorsitzenden des Parlaments und an die Mitglieder des Parlamentsausschusses für Menschenrechte, Minderheits- und Religionsfragen

b) Liste derer, die ihre Zustimmung in einer e-mail erklären:

 

1. Weitere Unterzeicher der Deklaration (innerhalb von 48 Stunden nach Veröffentlichung des Textesbis Montag Abend 21 Uhr)

2. Sich bis Mittwoch 16 Uhr anschließende Personen

3. Weitere, sich anschließende Personen (bis Freitag Nachmittag)

 

 

(Übersetzt von Angelika Balog)