Verneigung vor den Opfern der
Schoah
Sehr geehrte Teilnehmer des Gedenkgottesdienstes!
Liebe Geschwister!
Liebe Gäste!
Vor sechs Jahrzehnten wurde ein dämonisches
Chaos Herr über eine bestimmende
Region der menschlichen Zivilisation – über
jenes Europa, das sich dem griechisch-römischen
Humanismus und vor allem dem Christentum
verschrieben hat. Auf diesem
großartigen Kontinent, der einem Goethe, Kierkegaard, Victor Hugo, Servet, Rembrandt,
Michelangelo, Bach, Beethoven, János Arany, Endre Ady und vielen
anderen, von Gott inspirierten ausgezeichneten Persönlichkeiten eine Heimat gab, baute
sich der Geist der Gottlosigkeit
Brückenkopfstellungen, die jegliche menschliche Vorstellungskraft übersteigen und
im Verlauf nur einiger Jahre
fielen insgesamt sechs Millionen unserer jüdischen Geschwister der seelischen Perversion des mit bestialischen Mitteln tobenden Antisemitismus zum Opfer.
Der Strudel der sich
gegen den Gott der Bibel
auflehnenden heidnischen Emotionen riss mindestens 550 000 ungarische
Staatsbürger jüdischer Abstammung, 70 % des auf dem damaligen
Territorium des Landes lebenden Judentums mit sich und hinterließ in den
wenigen Überlebenden bis heute nicht
heilende, schreckliche Erinnerungen.
Wir alle wissen, was
geschehen ist. Hier, in diesem
Land loderten über Jahrzehnte hinweg die Emotionen.
Im Jahr 1920 wurde der numerus clausus als erstes
Judengesetz Europas eingeführt, der die Jugendlichen jüdischer Abstammung von den Universitäten drängte. Später folgten weitere judenfeindliche Verordnungen, von
1938 an folgten die bekannteren und schon offen brutalen
Fortsetzungen sowie der unmenschliche Arbeitsdienst. Im Jahr 1944, im Verlauf
nur einiger Wochen wurde die
Mehrheit des auf dem Gebiet
des historischen Ungarn lebenden Judentums in Ghettos
eingeschlossen, in Sammellager gezwungen und wie Tiere in
Viehwaggons gezwängt, kräftige Erwachsene ebenso wie kleine
Kinder und betagte Greise, insgesamt 437.402 Menschen.
Die im Ungarn des
XX. Jahrhunderts lebenden Nachkommen unserer jüdischen Geschwister, des sorgsam geliebten Volkes Jesu Christi
haben in diesem Vaterland keine Heimat für
sich gefunden. Auch heute haben
sie keinen Friedhof. Der Friedhof
ist am Ort
des Mordens selbst. Auschwitz, der größte Friedhof der ungarischen Nation liegt außerhalb
der Grenzen des Landes und die noch Lebenden
wollten wir außerhalb der Grenzen
des Landes wissen.
Einen Friedhof, eine Klagemauer haben wir seitdem nicht
geschaffen. Zur Schaffung eines Ortes für Trauer
und Tränenvergießen, für Reue und Buße, für die Bitte
um Vergebung und Vergeben, zur Schaffung
eines für diese Ziele geeigneten,
sakralen Ortes haben wir seither
noch keine Kraft und keine Inspiration gefunden.
Jüdische Gebetshäuser und Friedhofe sind verlassene Orte geworden. Synagogen wurden zum erinnerungstötenden Raub der Zerstörung,
des Marktschachers und der Profanisierung. Gemeinschaften verschwanden von so vielen Orten
des Landes und es gibt niemanden,
der sich ihrer erinnert und ihr Fehlen zur
Sprache bringt.
Zu alledem lebte auch
der Geist des Mordens und der Ausstoßung weiter und umschleicht uns auch heute
in gewissem Sinne noch, lauert
in unserer Seele, unseren Worten, unseren Gedanken.
Der vor sechs Jahrzehnten
geschehene Gottestod der Moderne, bei
dem auch die bisherige Erinnerung
an Gott zur
Flugasche wurde, bei dem sich
die Idee Gottes vom Menschen
zum bedauernswerten Schandbild verzerrte, ist das dramatischste
Ereignis der Geschichte des Christentums. Der Holocaust, die Schoah, ist vor
allen Dingen deshalb singulär, weil bei der
Ebnung des dahin führenden Weges die zweitausendjährige
judenfeindliche Tradition der Schwesterreligion des jüdischen Volkes,
des Christentums (das sich auf
den im jüdischen
Volk und in der jüdischen Religion
geborenen und gestorbenen Jesus beruft) und die, gegen den jüdischen
Schmerz unempfindlich machende Ausstrahlung dieser Tradition eine unvergleichliche Rolle spielte. Die Schoah ist
deshalb singulär, weil die, in
ihrer Kleinheit überhaupt zu erwähnen
beschämende Zahl derer, die ihr
Leben für die Söhne Israels
riskierten und die die Worte des
Erlösers in der Zeit, als seine
Geschwister durch den Leviathan verschlungen
wurden, ernst nahmen, so gering
war.
Und der
Holocaust ist nicht zuletzt auch deshalb
singulär, weil darin der Schöpfergott,
das Wesen des gemeinsamen Gottes der Juden
und Christen zum Opfer der Spaltung,
des Zerreißens, des Untergangs, der Schoah wurde.
Das
wahrhaft große Drama war weder
damals, noch ist es heute,
was mit Gott in Auschwitz geschah, was mit Gott in
den Viehwaggons geschah, was mit Gott in den
Ghettos geschah, sondern das wahrhaft
große Drama ist, was mit uns,
den Christen geschah, mit den Erbauern von Auschwitz, mit denen,
die die Türen
der Viehwaggons verplombt und die Züge losgeschickt haben, und das, was sich in
den Seelen der Christen abspielte;
das wahrhaft große Drama ist,
was damals und auch noch heute
in uns und mit uns geschah und geschieht, wenn wir gefühllos dazu
schweigen, was mit den Erwählten des
Schöpfergottes, den Söhnen des jüdischen
Volkes in der Zeit der Schoah
geschehen ist. Die in den
Staub tretende, große Frage ist – frei
nach Adorno – , ob wir
nach Auschwitz und in der stetigen Anwesenheit
der Auschwitz-Amnesie irgendwo auf der
Welt, insbesondere aber in Europa,
in unseren eigenen Kirchen und Häusern noch die
Bibel, das Wort lesen können, ob wir noch
Psalmen und Lobgesänge
singen können.
Im
Zeichen der Reue, der Versöhnung
und der Aussöhnung, verbunden mit dem heiligen Ziel, dem christlichen Schmerz über das
Fehlen der Ermordeten, der Bejahung und unserem Wunsch nach der
Wiederaufnahme der einst Ausgestoßenen Gesicht und Stimme zu geben, beabsichtigt
die Kirche in Kisvárda, das
einer der symbolträchtigen Provinzschauplätze
der Vernichtung des ungarischen Judentums ist und wo die lokale
Gemeinde der Evangelischen Brüdergemeinschaft Ungarns seit Jahren
regelmäßig der Tragödie des Judentums
dieser Stadt und deren Umgebung gedenkt, ein Grundstück
zu kaufen und diese als Gedenk-
und Mahnstätte zu
deklarieren.
Und in den Ortschaften, von denen aus unseres
Wissens die unsere jüdischen Geschwister befördernden Waggons ins Land
des Untergangs, direkt nach Auschwitz (in einzelnen Fällen unter Zwischenschaltung der Sammelstationen) losfuhren, bringen wir an den
Bahnhöfen, als den Orten, die
die äußerst schweren Erinnerungen der Schoah verheimlichen,
als mahnendes Zeichen der christusfeindlichen
Ausstoßung die Tafel der späten
Liebe und der Zurückerwartung an.
Der ewig lebende Name
der Märtyrer sei gesegnet und der Gott des
Trostes heile in den Lebenden
die auch heute noch schmerzende
Erinnerung und das Leiden.
Unserer
Glaubenshoffnung auf die Aufhebung der
Entfremdung von Synagoge
und Ekklesia, der Entfremdung von Juden und Christen, geben wir mit den Worten
des Epheserbriefes Ausdruck: „Darum denkt daran [meine Geschwister],
dass ihr einst Heiden wart
[...] , dass ihr zu jener Zeit ohne
Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und Fremde außerhalb des Bundes der
Verheißung; daher hattet ihr keine
Hoffnung und wart ohne Gott in
der Welt. Jetzt aber in
Christus Jesus seid ihr, die
ihr einst Ferne wart, Nahe
geworden durch das Blut Christi.
Denn Er ist
unser Friede, der aus beiden
eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen
hat, der dazwischen war, nämlich die
Feindschaft.” (Eph 2,
11-14)