TAMÁS MAJSAI:

 

 

Geschwisterliche Gedanken

 

An die Christen, Mitglieder und Leiter der christlichen Kirchen in Ungarn anlässlich des 60. Jahrestages der Schoah-Ereignisse in Ungarn.

 

 

Liebe Geschwister!

 

In diesem Jahr werden es 60 Jahre, dass der niederträchtige Wahnsinn, der sich in der Judenfeindlichkeit des 2. Weltkrieges ausdrückte, auch in Ungarn seinen satanischen Höhepunkt erreichte. Dieser beispiellose Irrsinn der Geschichte erklärte unsere jüdischen Geschwister zum kollektiven menschlichen Antitypen und brachte über sie das höllische Schrecknis von in Worte nicht fassbaren, seelischen und körperlichen Qualen, allein aus dem Grund, weil sie von Blutsbanden mit dem, sein Volk sorgend liebenden Jesus von Nazareth, gezeichnet sind.

 

Über die unmittelbaren Ursachen und die Zusammenhänge des Weges, der dahin führte, existieren viele verschiedene Auffassungen. Es gibt jedoch Tatsachen, die interpretationsunabhängig sind. Einen Menschenfriedhof, der dem Leichenberg von 550 000 ungarischen Juden vergleichbar wäre, kennt die Geschichte des Landes nicht. Die seelischen und gesellschafftsgeschichtlichen Auswirkungen der physischen Vernichtung sind mit den schwersten Tragödien des Landes, namentlich der Vernichtung durch den Tatarenüberfall und der Schlacht von Mohács vergleichbar. Tragischer als bei diesen ist jedoch die Rolle, die die christliche Tradition, als das die Singularität der Geschehnisse am stärksten ausdrückende Moment in diesem furchtbaren Drama gespielt hat. Figurativ formuliert: Wenn sich der Sohn des Zimmermannes von Nazareth dazu entschlossen hätte, gerade im Frühjahr des Jahres 1944 und in unserem Land zu seinen Auserwählten zu kommen, dann wäre er aufgrund der legitimen Gesetze und Verordnungen des Landes, welches gerade den Eucharistischen Weltkongress organisierte, das Jahr des Heiligen Stefan feierte und durch den regelmäßig am Abendmahl teilnehmenden Landesverweser regiert wurde, auch dann in einen der nach Auschwitz fahrenden Viehwagons getrieben worden, wenn die von heidnischen Gefühlen strotzenden Genealogen aufgezeigt hätten, dass sein Vater nicht der jüdische Josef war, sondern der, in der Theologie der Hitlerzeit beliebte römische Soldat namens Panthera. Setzen wir die empfindlichen Fakten mit christlichem Bezug fort: Jene Personen der ungarischen Öffentlichkeit, die mit unglaublicher Entschlossenheit („freiwillig und mit Wollust”) dabei mitgewirkt haben, die in unserem Lande lebenden Brüder Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesu Christi zu Bazillen zu erklären und sie mit gewerbsmäßiger Grausamkeit in den Tod zu schicken, waren Bürger eines Staates, der sich mit einer tausendjährigen christlichen Tradition brüstete; sie alle waren getaufte Kirchenmitglieder, Kirchgänger, Firmlinge, Konfirmanden, Abendmahls- und Kommuniongänger, Beter und Sänger von Psalmen und Lobliedern. Zudem haben Pfarrer und kirchliche Leiter eine aktive Rolle bei der Verwurzelung des antisemitischen Denkens und konkret bei der jahrzehntelangen, sorgfältigen Arbeit der Vorbereitung des Rohmaterials für die Todesfabriken gespielt. (Ich möchte hier nur kurz daran erinnern, dass die Judengesetze, die jeglichem Humanum, jeglicher Rechststaatlichkeit und vor allem den grundlegendsten biblisch-konfessionellen Überlegungen widersprechen, durch die Kirchenleiter parlamentarisch unterstützt wurden und in den Kirchen breite Befürwortung fanden sowie dass die lebensrettenden Konversionen im Jahre 1944 hartherzig behindert wurden.) Viele sind freilich eher aus bequemer Gleichgültigkeit (aus Gewohnheit, aus „Patriotismus” bekannter Art, etc.) „nur” mit dem Strom mitgeschwommen, andere haben „nur” die menschliche und theologische Häresis ihrer Kollegen geduldet – still und ohne eigene Meinung, aus Trägheit zum Guten und vielleicht im Zustand quälender Gewissensbisse. Nicht vernachlässigt werden darf hier jedoch die christliche Predigt und Katechese, die mit eher latenten, jedoch sehr schädlichen Mechanismen die Seuche des Hasses auf den Gott der Sinai-Offenbarung säte und (oft als, mit der Bosheit eines Chipolla daherkommende Ränke) bei der Hebung der Reizschwelle der Unempfindlichkeit der christlichen Seelen gegenüber dem jüdischen Schicksal auf ein wirklichkeitsfremdes Niveau mithalf. Das Endergebnis ist bekannt: Der Großteil der „christlichen” Bevölkerung hatte zu der Gottlosigkeit, an die mit den Stichworten Deportation von Kõrösmezõ (alias Kamenez-Podolsk), Arbeitsdienst, später Ghetto, Transporte und Auschwitz erinnert sein soll, nichts zu sagen. Diejenigen, die für das Volk Israels Einspruch erhoben, handelten und beteten, haben in Wahrheit Welten gerettet. Die Wortlosen, nicht Handelnden, nicht Betenden hingegen ließen das Tausendfache von Welten verloren gehen.

 

 

Liebe Geschwister!

 

Nur leise und mit Demut können wir vielleicht auch sagen, dass der Untergang, die Schoah, nicht nur unsere jüdischen Geschwister, sondern auch das Christentum getroffen hat. Es mag seltsam klingen, aber die Gaskammern und Öfen der Todesfabriken erwiesen sich trotz der Perfektion des Bösen nicht als stark genug, den Bund des Heiligen (Gottes) mit Seinem Volk zu ignorieren, sie haben jedoch die traditionellen Strukturen des christlichen Selbstverständnisses grundlegend in Frage gestellt. Das furchtbarste Element der Katastrophe der, durch die aufsteigende Asche gründlich befleckten, wenn nicht gar gänzlich in Rauch aufgegangenen Identität ist jene Diskreditierung, welche eine alles Frühere übersteigende Entfremdung zwischen Ekklesia und Synagoge bewirkt hat. Weniger die Folge, als eher die Erklärung für das Bruderdrama ist, dass bei uns noch heute, nach sechs Jahrzehnten, die für die Überwindung des Unfriedens unabdingbaren, bekennenden Worte nicht ausgesprochen wurden. Sechs Jahrzehnte nach Auschwitz gibt es tief verwurzelte Hindernisse dafür, dass wir das Martyrium des Volkes Israel nicht mit Gleichgültigkeit, abstandhaltender Sachlichkeit, zynischer Höflichkeit oder leeren diplomatischen Gesten behandeln, dass wir über die Apokalypse des auserwählten Volkes nicht mit kühlen geschichtlichen Erwägungen, nicht in bösen Kategorien der es ereilenden Bestrafung denken, sondern als von einem uns treffenden Gericht und einem Glaubensminotaurus der seelisch-physischen Entfremdung von ihm. (Einer der Tiefpunkte des seelischen Unverständnisses ist die Kollektivisierung des jüdischen Leidens. Auch wir Christen schrecken nicht davor zurück oder nehmen es zumindest mit stillem Einverständnis hin, dass das Wort ’Holocaust’, der Ausdruck der, sich als vernichtendes und bis heute spukendes Schreckgespenst in die Seelen unserer jüdischen Geschwister eingrabenden Niederträchtigkeit der Schoah, der Ausdruck, der den namenlosen, zu Grablosen geschändeten Opfern wenigstens auf diese furchtbare Weise ein Denkmal setzt, zum Appellativ in den obszönen, vom attributiven Holocaust plappernden Narrativen devalviert.

 

Die Bibel äußert sich eindeutig dazu, dass die Freude und Erlösung des Volkes Israels, die bedingungslose Bejahung der Auserwähltheit Israels und die prinzipielle christliche Liebe zu Israel der absolute Gradmesser für die seelische Identität der in Jesus Christus Heil und Gottesnähe erlangenden „Nichtisraeliten” sind. Das theologische Maß des Verhältnisses zwischen Israel und den sich dem Volk Israel anschließenden „nichtjüdischen” Christen beruht auf der Unverrückbarkeit der, die beiden biblischen Bücher verbindenden und die Trennlinie zwischen Glaube und Unglaube definierenden Eckpfeiler.

 

Es ist hier nicht der Ort für eine detaillierte Behandlung der beschämenden Tatsache, dass das im April eröffnete Holocaust Museum (für das vielleicht ’Haus des Gedenkens und der Mahnung’ ein besserer, wahrerer Ausdruck wäre) nicht zur (Herzens-)Angelegenheit der „Mehrheits-”Gesellschaft wurde, sondern notgedrungen zu einer Art jüdischer Internangelegenheit schrumpfte und, wie sich aus gewissen Zeichen schließen lässt, zum Eris-Apfel unwürdiger Diskussionen und kleinlicher Nahkämpfe abglitt. Das Urteil trifft uns, die Christen, die wir über lange Jahre hin nicht daran gedacht haben, diese äußerst wichtige Angelegenheit zu einer gesamtgesellschaftlichen Initiative zu machen und diese bezüglich ihrer Finanzierung (beispielsweise durch einen Spendenaufruf) und Realisierung aus der Abhängigkeit von den jeweiligen, prosaisch denkenden und so gut wie ausschließlich Marketing-Gesichtspunkte verfolgenden Regierungen herauszulösen. Das Urteil trifft uns, die wir tagtäglich Sündenbekenntnis, Liebe, Versöhnung, Verbinden der Wunden, Trost für die traurigen Herzen und die Worte der Neugeburt vom Tode verkünden, weil wir dies alles versäumt haben, denen gegenüber auszusprechen, die als Brüder Christi wie ein aus dem Feuer gerissenes, brennendes Holzscheit aus dem Tal der Todesschatten zu uns zurückgekehrt sind.

 

Zurückblickend erlebe auch ich persönlich ein gewisses Schuldbewusstsein, insofern ich in dieser Sache nicht schon früher die innere Freiheit verspürte, das Wort zu ergreifen. Es war eine Schwachheit, eine schmerzliche Schmach. Umso dankbarer bin ich János Kõbányai, dem Hauptredakteur der Zeitschrift ’Múlt és Jövõ’ [’Vergangenheit und Zukunft’, d. Übers], der in seinem Artikel wiederholt (zuletzt in der Nummer vom 20. Februar dieses Jahres in ’Élet és Irodalom’ [’Leben und Literatur’, d. Übers.]) seiner Unzufriedenheit hinsichtlich der düsteren Perspektive des Ortes der Erinnerung Ausdruck verleiht, sodass er schließlich mein, dem Hin- und Hertreten vor dem brennenden Dornbusch ähnelndes Zögern löste und mich mit seinen schmerzlich wahren Worten dazu zwang, einige gedenktagsgeschichtliche Konsequenzen des von Auschwitz, dem negativen Sinai gezeichneten (ungarischen) jüdischen Profundum und des ebenso von Auschwitz gezeichneten Zusammenbruchs der christlichen Identität zu durchdenken.

 

Sprechen darf ich natürlich auch weiterhin nur darüber, was mich, uns, die Christen betrifft.

 

Die Bedenken und Ängste von János Kõbányai haben Bestand. Das Haus des Gedenkens und der Mahnung sowie die darin um Gehör bittende Narrative des Untergangs und der Vernichtung dürften nicht profanisiert werden. Dieses Haus müsste als starkes Licht in die letzten Winkel der, von Unempfindlichkeits- und Amnesiemechanismen beinahe mythischer Kraft hervorgebrachten sechs Jahrzehnte langen nationalen Unwissenheit scheinen können. Es müsste an der Achse von Himmel und Erde liegen (was keine Frage der fiskalen und technischen Kompetenz, sondern der pneumatischen Inspiration ist) und die Dimension des Heiligen ausstrahlen. Es müsste ein Raum sein, in dem eines der wichtigsten Dinge geschehen kann: die auferstehungsartige Rückkehr und Wiederaufnahme der einst Ausgestoßenen, derer, die keinen Ort der Ruhe gefunden haben (in der Weise, wie die resurrectio dem ausgestoßenen und unschuldig gestorbenen Jesus Recht gab) und die Herausrettung des Schmerzes der Toten und der Lebenden aus der Gefangenschaft der Profanität. Es müsste ein Raum sein, der als dazu berufenes Medium bei der pneumatischen Umkehrung der dämonischen Worte des Negativen Sinai in die prohibitive Antwort des Glaubens und des Humanum mitwirkt; ein Raum, in dem die spirituelle Liturgie der Buße, der Versöhnung und der Aussöhnung jetzt und bis zum eschatologischen Augenblick des uns miteinander versöhnenden Friedens stattfinden kann. Das Haus des Gedenkens und der Mahnung müsste das Symbol des Unannehmbaren und Unvorstellbaren sein. Es müsste in der Lage sein, in der Weise der ehernen Schlange des Mose, das funktionell primäre Besucherpublikum, die „Nichtjuden” anzusprechen. Als Pilgerort müsste es die Möglichkeit und Gelegenheit in die Einweihung in ihre „große Reise” und für die Hervorbringung der gefühls- und mentalitätskonditionierenden Berichte, die den aus dieser Reise entspringenden Entscheidungen dienen, bieten können. Und nicht zuletzt müsste es bewirken, dass endlich und ein für allemal der, sich trotz Auschwitz in karfreitäglicher Position empörende Stein der zweitausendjährigen christlich- theologischen Bosheit weggerollt wird, der die jüdische Verworfenheit und (religiöse und nicht religiöse) Minderwertigkeit, den negativen Wertunterschied von Synagoge und Ekklesia verkünden will.

 

Das Haus des Gedenkens und der Mahnung realisiert sich jedoch schließlich in einem jüdischen Gotteshaus (und – den Gedanken von Kõbányai zitierend– nicht in der Basilika oder in der Kirche vom Kálvin tér [in Budapest, d. Übers.]); auch durch diese Symbolik wird diese christliche und nationale Pflicht kruzialer Bedeutung zur partikularen Angelegenheit degradiert. Infolge des erstickenden Untersichseins schließt das Projekt (bewusst wähle ich hier diesen profanen Ausdruck) die „primär” Betroffenen ein und hält gerade jene „Nichtjuden” fern,  ja schließt sie geradezu aus der Liturgie des Ortes aus (auch hier kann ich nicht anders als frivol formulieren), ohne die dieser Raum zum funktionellen Vakuum gerät. Wollen wir jedoch präzise sein: Der Ausschluss ist unser Selbstausschluss, das Einschließen der Erinnerungen ins Ghetto ist unsere Entscheidung, die wir wieder den leichteren Weg gewählt haben, die wir ohne Verlegenheit und Empörung angenommen haben und annehmen, dass das Ziel des„Holocaust-Museums” ist, Medium der „Trauerarbeit” des primär betroffenen Judentums zu sein. Und darüber ist schon beinahe überflüssig zu sprechen, dass, da diese eminent wichtige Angelegenheit in das Prokustes-Bett der niederträchtigen Gesichtspunkte von Interesselosigkeit, Protokollansprüchen und finanziellem Wehklagen gedrängt wurde, nicht einmal der Versuch einer Adaptierung der Wahrnehmung von Ágnes Heller stattgefunden hat (Heller zufolge müsste sich das Museum außerhalb von Budapest befinden, denn „nicht die Budapester, sondern die Juden der Provinz wurden, beinahe gänzlich, ausgerottet”) und dass auch nicht der Gedanke einer Zwischenlösung, wie etwa die Schaffung eines Gedenkortes in Budapest und in der Provinz aufgekommen ist.

 

Vielleicht im vorletzten Moment, jedoch von dem Artikel „Kain, wo bist du?” von János Kõbányai inspiriert, haben mich zwei Träume in ihre Gewalt bekommen, die ich im Sinne des Apostels Paulus („ob ich vielleicht meine Stammverwandten zum Nacheifern reizen… könnte”) meinen christlichen Geschwistern und den zum Dienst berufenen verantwortlichen Instanzen der christlichen Kirchen weitergeben möchte.

 

 

I.

 

Von unschätzbarer Bedeutung wäre und würde dazu beitragen, vom biblischen Pathos der Ordnung des Chaos zum Kosmos wenigstens das Minimum zur Sprache zu bringen, wenn die primär Leidtragenden der, in der „Narrative” des Jahres 1944 kulminierenden Entfremdung von Ekklesia und Synagoge – wenngleich auch nur symbolisch und als Rest des Restes, jedoch in ihrer persönlichen Realität – Teilhaber jener Geste sein könnten, die den Du-Ich/Ich-Du-Bogens der Versöhnung spannt und auf die sie seit der „großen Reise” vergebens warten.

 

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die gnadenvolle Möglichkeit des Kairos der geschwisterlichen Begegnung in diesem Land herbeigeführt und vorangebracht würde, wenn die Christen und christlichen Gemeinschaften unseres Landes mit Buß- und Betgottesdiensten der Hunderttausenden von Ermordeten und der Überlebenden gedenken würden und von dem gottgemeinten Gedanken der Zusammengehörigkeit von Juden und Christen Zeugnis ablegen würden. Solche, gleichsam als wanderndes, pneumatisch-biblisches Museum geschehenden, sich mit stiller Demut vollziehenden Ereignisse, bei denen Gottes Geist wie in ein Zelt herabkommt, wären dafür geeignet, unserem Schmerz über das Fehlen unserer ermordeten jüdischen Geschwister und unseren, die Wiederaufnahme der einst Verstoßenen bejahenden und begehrenden Gefühlen Gesicht und Stimme zu verleihen. Solche Gottesdienste, gehalten in einer, die praktische Liebe verwirklichenden Aufrichtigkeit des Wortes von Seele zu Seele, könnten als allgemeine Beichte – und dieses Mal vielleicht aufrichtig und mit, von jedem Hinken freier Eindeutigkeit – das christliche Versäumnis gegenüber den Verfolgten, die aktiven und passiven Sünden ausdrücken und die Worte der Sühne und Lossprechung vermitteln. Im Dabeisein des Herrn der Geschichte (und wo zwei oder drei zusammenkommen …) kann geschehen, dass die Riten des gemeinsamen Verneigens mehr sagen als alle, in steinerne Mauern eingeschlossene Gedenkstätten und dass auch die Unaufrichtigkeit, die sich im Schatten der, bisher nur im mühevollen Konsens geschlossener Gremien geschaffenen, vom praktischen Christentum jedoch weitgehend seelenfremden textualen Deklarationen verbirgt, in die Vergangenheit verwiesen wird. Es könnte geschehen, dass ein unseliges Kapitel unseres Lebens abgeschlossen wird: das seit zwei Generationen drückend auf uns lastende Kapitel der abgewägten, der missverständlichen oder eher noch auf Grund ihres Fehlens ein Abwägen nicht kennendenden und also auch nicht missverstehbaren institutionellen Worte, es könnte geschehen, dass ein neues, vom Geist des Herrn kommendes, hesekielsches Herz neue Geschichte schreibt. Es könnte geschehen, dass die beschämenden, und zwar uns beschämenden, selbstkritischen Worte von Kõbányai milder, sanfter würden: „Aber auch dann hätte man nicht lügen, und [...] anstelle der Ungarn (der ungarischen Gesellschaft) die uns zukommende, zur Legitimation unseres eigenen Lebens »als tägliches Brot nicht gewährte « Geste erzwingen dürfen. Den lebensspendenden Sonnenstrahl der Liebe können wir nicht bekommen und uns vorgaukeln, im Gegenteil: Wir prolongieren damit nur den schon seit 160 Jahren drückenden, zur Kompensation zwingenden Prozess der Lieblosigkeit.”

 

Jene Christen, die vom Geist Gottes dazu bewegt werden, könnten an all den Orten der Schoah, der Vernichtung, an denen vor sechs Jahrzehnten die Worte des Negativen Sinai inkarnierten und die Seelen der Täter und Opfer auf je andere Weise, in Dunkelheit stürzten, solche Gottesdienste halten. Wenn der Geist Gottes uns jetzt dazu bewegen könnte, dass wir mit den Worten der Buße und des Flehens und dem Aussprechen der zehn Gebote und des neutestamentlichen Liebesgebotes unseren Bund mit dem Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesu Christi erneuern, und diese Orte neu heiligen und neu bewohnen, dann könnte vielleicht die große Reise in umgekehrter Richtung beginnen und wir könnten auf eine neue Perspektive hoffen, in der die Konturen des Friedens miteinander und des Friedens in uns selbst aufzudämmern beginnen.

 

Mit dem Geist der Liebe und der, Sühne bringenden Brüderlichkeit müssten wir die einstigen Arbeitsdienst- und Sammelstationen, die Schauplätze der Ghettos, die zur dämonischen Arena des Menschentransports gemachten Bahnhöfe und die, das kollektive Symbol der vernichteten jüdischen Gemeinschaften darstellenden, geschändeten Synagogen und Synagogengrundstücke neu heiligen und unter die Wirkung der alten-neuen Offenbarung stellen. Orte dieser Gottesdienste müssten aber auch alle Wohnorte sein, an denen vor dem Untergang jüdische Gemeinschaften gelebt haben und Orte solcher Gottesdienste müssten auch alle christlichen Gemeinschaften sein, die die Wirkungsweise der Kirche im Bonhoeffer’schen Sinne als Gemeinschaft, die als kollektive ethische Person und als Gewissen des Umfelds handelt, bejaht. Dies wäre ein wirklicher, makelloser Gemeindienst. Dies würde das Ganze der nationalen Gemeinschaft berühren. Dies würde von hunderten, tausenden Orten aus die christlichen und nichtchristlichen Bürger des Landes ansprechen und den göttlichen Imperativ der Bemühung um Versöhnung und Vergebung zum paradigmatischen Handeln emporheben.

 

 

II.

 

Der Jahrestag, der die Inkarnation der Worte des Negativen Sinai kalendarisch versteift, konfrontiert die sich als Christen verstehenden Gläubigen und die christlichen Kirchen insbesondere auch damit, dass wir bis zum heutigen Tag es nicht als unsere Glaubensaufgabe verspürt haben, das Fehlen unserer verstoßenen Brüder, das Bedauern, zu leicht befunden zu sein, und das Verlangen nach Befreiung und Versöhnung (Jakob in Pnuel: Begegnung mit Gott und dem entfremdeten Bruder von Angesicht zu Angesicht, vgl.1. Mose 32) zeichenhaft zu dokumentieren.

 

Als wenigstens partielles Nachholen des Versäumnisses müssten wir gerade deshalb anlässlich der Gottesdienste – frei nach Jakob (siehe 1. Mose 28) – Gedenkzeichen an den Schauplätzen der damaligen Ereignisse (oder in deren Nähe an den dafür am ehesten geeigneten Orten) setzen. Wenigstens an den Orten, an denen die Geschwister des Jesus von Nazareth zu Hause waren, wo einst die, durch die getauften und die Kirche besuchenden Beamten, Gendarmen und Milizen eingerichteten Ghettos standen und von denen aus die Züge, die die ebenfalls durch christliche Kirchenmitglieder in Waggons getriebenen Juden transportierten, losfuhren. So wie in Bethel, vollzog sich auch an diesen Orten und müsste/muss sich dort ein Ringen mit dem Heiligen vollziehen, der einst (mit schrecklichem, unbekannten Ziel) besiegt wurde und der jetzt über uns siegen will. Das Gedenkzeichen könnte stilgemäß sein: zum Beispiel ein, aus einer mit Stacheldraht umflochtenen Eisenbahnschiene (oder einem schienenförmigen Holzstück) gebildeter Torso, darunter eine Gedenktafel mit dem Namen der jeweiligen Gemeinschaft, den ungarischen Jahreszahlen des Unterganges und der großen Gottesfinsternis und den Worten der großen Befreiung des Versöhnungstages (Jom Kippur). (Sofern und solange die lokalen Verwaltungen für die Plazierung des Mementos keine Möglichkeit gewähren, könnte es auf eigenem Grundstück, neben unserer Kirche oder Gemeindehaus aufgestellt werden.)

 

 

*

 

Ich bin mir darüber im Klaren, dass sich der grauenvolle Abgrund der Gleichgültigkeit und Unverständigkeit nicht mit dem Eifer Einzelner überbrücken lässt. Dennoch haben die Fakultät für Theologie und Pfarrerausbildung der Theologischen Hochschule John Wesley und ihr Träger, die Evangelische Brüdergemeinschaft Ungarns (MET) zum 60. Jahrestag der Schoah zwei Initiativen des guten Dienstes beschlossen und versucht damit das beinahe Unmögliche, das quälende Gefühl der gemeinsamen Schuld und Schande wenigstens in zeichenhafte Gesten und Worte zu fassen. Ich bitte meine christlichen Geschwister und die Vertreter der christlichen Kirchen, unsere „mit Furcht und Zittern” getroffene Entscheidung in ihre Gebetsempfindungen aufzunehmen.

 

Infolge unserer gemeinsamen Sicht folgen wir dem Gebot unseres christlichen Glaubens, indem wir im Sinne des neben diesem Artikel zu findenden Aufrufes anlässlich des 60. Jahrestages der Geschehnisse der Schoah in Ungarn Buß- und Betgottesdienste halten.

 

Unsere gemeinsame Absicht ist des Weiteren, dass wir in Kisvárda, einem Ort der Vernichtung des ungarischen Judentums der Provinz mit symbolischem Wert, wo die örtliche MET-Gemeinde seit Jahren regelmäßig der Tragödie des Judentums der Stadt gedenkt, ein Grundstück kaufen, das wir am Gedenktag der Deportation im Rahmen eines Buß- und Betgottesdienstes zum Gedenk- und Mahnort erklären werden. Als mahnendes Denkmal der christusfeindlichen Ausstoßung stellen wir auf dem Grundstück einen Viehwaggon auf, der den Mittelpunkt eines später zu gestaltenden Gebäudeensembles bilden wird. Als Verdeutlichung des Ziels des Gedenkortes und als Besiegelung unserer Empfindungen, weiterhin als Antizipation der Begegnungen im Sinne des biblischen „meine Seele ist befreit worden” dokumentieren wir die Namen der „Rückkehrenden” und ihren Herkunftsort.

 

Zur Ausarbeitung der inhaltlichen Gesichtspunkte des, als spirituelles Medium der Erinnerung und Versöhnung gedachten Pilgerortes, sowie zur Koordinierung der praktischen Aufgaben der Verwirklichung schaffen wir ein gesellschaftliches Kuratorium. Von dessen Gründung werden wir die Öffentlichkeit in Kenntnis setzen.

 

Fragen, Mitteilungen, Vorschläge und die unterstützende Absicht im Zusammenhang mit den Gedenk-Gottesdiensten und der Schaffung der Gedenkstätte können unter der e-mail-Adresse wjlf.tg@freemail.hu und der Postadresse WJLF 1410 Pf. 200 an uns geleitet werden.

 

Wir glauben und hoffen, dass unseren, vom Glauben getragenen Initiativen amen-sagende, christliche Emotionen begegnen werden. Wir glauben, dass der Geist Gottes die Macht hat, den zustimmenden und unterstützenden Eifer der Herzen zu bewirken und die ähnlichen Empfindungen Anderer sowie anderer Konfessionen zu wecken. Unser Bemühen, das auf das Suchen und Verstehen der Absichten des Herrn der Geschichte gerichtet ist, tragen wir in unserem täglichen Gebet und wir schließen uns mit von Herzen kommender Freude an jegliche, ähnlichgeartete Entscheidungen unserer Geschwister und geschwisterlichen Konfessionen an.

 

Wir möchten mit den folgenden Worten des Epheserbriefes die betende Aufmerksamkeit unserer Geschwister auf die aus dem Glauben kommenden Bemühungen um die Aufhebung der Entfremdung zwischen Synagoge und Ekklesia lenken: „Darum denkt daran, dass ihr, die ihr von Geburt einst Heiden wart [...] zu jener Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerreecht Israels und Fremde außerhalb des Bundes der Verheißung; daher hattet ihr keine Hoffnung und wart ohne Gott in der Welt. Jetzt aber in Christus Jesus seid ihr, die ihr einst Ferne wart, Nahe geworden durch das Blut Christi. Denn Er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war.” (Eph 2, 11-14)

 

Budapest, den 29. Februar 2004

 

Mit geschwisterlichem Gruß

 

 

(Der Verfasser ist Dekan des Faches Theologie und Pfarrerausbildung an der Theologischen Hochschule John Wesley)